„Und dann waren über Nacht alle AI-Influencer“, scherzt Helmut Prieschenk, Geschäftsführer von WITRON im Vorgespräch zur Podcast-Aufnahme mit Franziskos Kyriakopoulos, Gründer von 7LYTIX aus Linz über die sozialen Netzwerke und dem dort verbreiteten Hype um das Large Language Model ChatGPT. Prieschenk will mit dem Gründer über Industrial AI, über Demand Forecasting und „ein bisschen“ über ChatGPT sprechen. Kyriakopoulos und sein Team entwickeln Machine Learning-Lösungen für den Handel und die Industrie. Der Österreicher ist Physiker und Prieschenk Mathematiker. „Das ist eine gefährliche Mischung“, warnt Prieschenk und lacht. „Natürlich haben wir uns bei WITRON mit LLMs (Large Language Models) schon beschäftigt. Ich plädiere aber für eine gewisse Gelassenheit. Die Welt wird durch deren Einsatz nicht untergehen – und wir prüfen kontinuierlich, ob solche Tools geeignet sind, unseren Kunden bzw. unseren Entwicklern bei der Umsetzung von konkreten Kundenanforderungen sinnvoll weiterzuhelfen“, erklärt der Oberpfälzer.
"Wir müssen immer nüchtern an die Sache rangehen. Unsere Kunden suchen ursprünglich kein neues „Tool“, sie haben eine Problemstellung und brauchen dafür eine funktionierende Lösung, welche den Logistikprozess im Verteilzentrum oder in der Supply Chain optimiert, in der Praxis stabil funktioniert und sich sinnvoll in eine gewachsene Struktur integrieren lässt."Helmut Prieschenk, CEO, WITRON
Franziskos Kyriakopoulos stimmt ihm zu, skizziert aber schon Anwendungen. „LLMs sind gut darin, Sequenzen zu bearbeiten – Bestellungen, Abbuchungen, Umsätze oder Kundenkommunikation. Das kann auch in der Intralogistik genutzt werden.“ Er gibt Prieschenk aber recht. „Der Hype ist groß, viele Influencer rennen umher und verbreiten Halbwahrheiten.“ WITRON habe das schon erlebt. Wettbewerber zum OPM-System würden mit KI im Schlichtalgorithmus werben. „Doch die Ergebnisse kommen an die Funktionalitäten unseres WITRON-OPMs nicht ran. Diese wurden nicht mit KI entwickelt, sondern mit ganz viel menschlicher Intelligenz, auf Grundlage von sauberer handwerklicher Software-Arbeit, intensiver Kommunikation mit den Anwendern sowie jahrelanger Praxiserfahrung. Wir müssen immer nüchtern an die Sache rangehen. Unsere Kunden suchen ursprünglich kein neues „Tool“, sie haben eine Problemstellung und brauchen dafür eine funktionierende Lösung, welche den Logistikprozess im Verteilzentrum oder in der Supply Chain optimiert, in der Praxis stabil funktioniert und sich sinnvoll in eine gewachsene Struktur integrieren lässt.“ Aber behindert uns nicht diese Nüchternheit in Deutschland und Europa? „Ich brauche schon einen ROI“, unterstreicht Prieschenk vehement. „LLM-Entwickler haben eine Burnrate von 500 Mio. US-Dollar pro Jahr und brauchen nochmal einige Milliarden“, berichtet Kyriakopoulos. „Das wäre in Deutschland oder bei uns in Österreich undenkbar.“
Gehen wir zu wenig ins Risiko? Prieschenk ist skeptisch. „Finde ich nicht. Wenn ich mir beispielsweise die Investments im Q-Commerce anschaue, dann wird mir schwindelig. Da sind viele Investoren voll ins Risiko gegangen. Aber der Markt hat sich in eine ganz andere Richtung entwickelt. Prognostizierte Wachstumsraten blieben aus. Inzwischen findet eine Konsolidierung statt. Die Investoren sind weitergezogen. Unsere Retailer wollen AI, investieren in die Technologie. Aber wir und unsere Kunden brauchen AI-Tools wie beispielsweise Mustererkennung oder Bilderkennung, die transparent sind, um dann Probleme zu lösen, die wir vorher nicht oder mit nur sehr großem Aufwand lösen konnten.“
Die 7LYTIX-Entwicklerinnen und Entwickler arbeiten mit LLMs, aber der Schwerpunkt liegt auf Demand Forceasting. „Wir können Mehrwerte liefern, aber manche Unternehmen verstehen am Anfang oft nicht, was der Mehrwert des Modells sein wird. Mehr Umsatz durch bessere Kommunikation zum Kunden oder „Lost Sales“? Viele können das nicht berechnen. Da brauchen sie Hilfe von uns“, meint Kyriakopoulos. Prieschenk ergänzt: „Unsere WITRON-Kunden können sehr gut rechnen und haben über Jahrzehnte ihr Geschäft perfektioniert. Aber ich verstehe was Herr Kyriakopoulos meint: Zunächst muss geklärt werden, wohin überhaupt optimiert werden soll. Der Retailer fragt sich, will ich das Supply-Chain-Netzwerk optimieren, die Lagergröße, näher am Kunden sein, Durchlaufzeiten minimieren, Lieferzyklen verändern, Food Waste und Stock-Out reduzieren oder weniger Bestand im Lager haben. Dahingehend haben wir gemeinsam mit unseren Kunden aus verschiedensten Erdteilen sehr viel gelernt. Auch, dass die Anforderungen bei Feiertagen in Finnland andere sind als bei Feiertagen in den USA oder dass ein Montag andere Anforderungen bereithält als ein Donnerstag.“ Kyriakopoulos stimmt dem zu. „Wir brauchen erst eine Anforderung und dann ein AI-Tool dafür. Und nicht überall brauchen wir ein Deep Learning.“
Franziskos Kyriakopoulos, CEO & Co-Founder, 7LYTIX
Wie funktioniert sein Demand Forecasting? „Am Anfang müssen wir einen Überblick über die Daten bekommen. Das ist eine mühselige Arbeit für viele Handelsunternehmen. Es geht nicht nur um Lagerware, sondern auch wie viele Waren sind in der Filiale, wie viel wurde verkauft, welche Einflussfaktoren wie Promotions gibt es, wie viele “Lost Sales“ habe ich in der Filiale und vieles mehr“ erklärt Franziskos Kyriakopoulos. Dazu kommen Kundenkarten, Jahreszeiten, die Lage der Filiale oder Aktionen. „Und wir müssen wissen, was ist im Verteilzentrum, im Backroom der Filiale, in den LKWs auf der Straße, denn die Optimierung endet nicht in der Filiale. Ebenso gilt es konzern- oder abteilungsübergreifende Restriktionen sowie Data-Lakes zu vermeiden. Zumeist ist ein Großteil der notwendigen Daten bekannt, aber verschiedene Abteilungen verfolgen leider unterschiedliche Interessen.“ Dem stimmt Helmut Prieschenk zu: „Auch bei einer ganzheitlichen Logistik-Planung darf nicht ausschließlich das Verteilzentrum betrachtet werden oder die Schwerpunkt-Interessen einzelner Logistikbereiche bzw. prozessbeeinflussende Abteilungen wie die des Einkaufs oder des Versands. Es gilt die komplette Supply Chain in den Optimierungsprozess mit einzubeziehen – sowohl intern als auch extern – und Silos so weit als möglich zu vermeiden, sowohl physikalisch als auch IT-technisch.“
„Die Daten fließen in ganz einfache Modelle“ so Kyriakopoulos weiter. Die Baseline bilden die Erfahrungen der Menschen. Das ist noch nicht KI. Wir sprechen von Regressionen. Dann fragen wir uns, sind wir besser geworden. Es folgen Zeitreihenanalysen, erste Machine-Learning-Methoden. Wir müssen immer schauen, wie viel Genauigkeit erreichen wir durch die nächste Stufe versus wie hoch ist der Mehrwert für den Kunden und Anwender.“
Und WITRON? „Wir müssen schauen, dass die Mechanik zum Modell passt. Denn die Physik muss ebenso funktionieren. Liefere ich Cases oder Pieces? Oder einen Artikel sogar in beiden Varianten? Wie oft wird eine Filiale beliefert? Was ist, wenn sich das Artikelspektrum ändert?“
Helmut Prieschenk, CEO, WITRON
WITRON-Logistikzentren schaffen Flexibilität sowohl für die Filiale als auch für den E-Commerce. Entscheidend für eine erfolgreiche Umsetzung ist jedoch kanalübergreifend den Prozess rückwärts zu denken – vom Konsumenten hinein in das Verteilzentrum und ggf. noch weiter zurück bis hin zum Lieferanten. Er sieht vor allem in der Erklärbarkeit des Modells eine Herausforderung. „Wir erleben Push- und Pull-Systeme bei unseren Kunden. Manche funktionieren besser als andere.“
Lässt sich ein Filialleiter in Zukunft von einem AI-Modell seine Bestellungen vorgeben? Kyriakopoulos kennt das Argument aus der Fashion-Industrie. „Wenn dort jemand 20 Jahre einkauft, dann wird es schwierig ihm sofort den Mehrwert zu erklären bzw. ihn zu überzeugen, dass das Modell vielleicht besser ist. Aber wir machen es transparent, welche Faktoren nutzen wir, wie gewichten wir diese und wo drückt dann der jeweilige Faktor hin.“
18 Monate können die Österreicher in die Zukunft schauen. Über Schnittstellen wird das Modell an die bestehenden Systeme des Retailers, des Stahlproduzenten oder des Schuhhändlers angedockt. „Ich will nicht alles einreißen, um ein AI-Modell zu nutzen“, lacht Kyriakopoulos. „Das ist der richtige Weg – die Integration in bestehende Architekturen“, bestätigt Prieschenk.
"Wir haben während Covid19 in der Tiefkühllogistik mit dem Modell gearbeitet. Der kurzfristige Forecast war am Anfang nicht gut, aber nach einer Woche hat das Modell wieder performt. Nach zwei Wochen war es stabil. Aber der Forecast allein reicht ja nicht. Der Kunde muss damit arbeiten – beispielsweise Marketingkanäle stärken, Promos fahren oder ggf. Preise anpassen."Franziskos Kyriakopoulos, CEO & Co-Foudner, 7LYTIX
Doch wie robust ist das Modell? Stichwort: Covid19. „Das haben wir auch nicht sehen können“, erklärt der Österreicher. „Wir haben damals in der Tiefkühllogistik mit dem Modell gearbeitet. Der kurzfristige Forecast war am Anfang nicht gut, aber nach einer Woche hat das Modell wieder performt. Nach zwei Wochen war es stabil. Aber der Forecast allein reicht ja nicht. Der Kunde muss damit arbeiten – beispielsweise Marketingkanäle stärken, Promos fahren oder ggf. Preise anpassen.“
Das sei entscheidend, so Prieschenk. „Der Mensch übernimmt dann. Unterschätzen sie nie das Bauchgefühl eines Logistikleiters, Service-Technikers oder Filialbetreibers. Die Erfahrungswerte der Menschen sowie ein gut funktionierendes Datenmodell sind die Basis um langfristig intelligente – sprich die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dies hat im Verteilzentrum auch bei der Umsetzung von Maintenance-Strategien oder dem „richtigen Fahren“ der Anlage seine Gültigkeit. Und wichtig ist: die Modelle, Tools, Lösungen müssen robust sein und sich in der Praxis beweisen, im Tagesgeschäft tatsächliche Mehrwerte liefern.“
Die KI liefert Informationen, der Verantwortliche entscheidet und habe weiterhin die Hoheit über den Prozess. „Wir haben vor über 20 Jahren die Physik im Logistikzentrum revolutioniert. Haben es mit der OPM-Lösung geschafft, dass Waren fehlerfrei und filialgerecht von Maschinen auf Paletten und Rollcontainer geschlichtet werden. Jetzt gehen wir den nächsten Schritt und setzen auf Daten und End-to-End-Logistikmodelle. Und ich bin mir sicher, dass ich noch ein End-to-End-WITRON-AI-Modell für das Warehouse erleben werde“, prophezeit Prieschenk.
Wo AI-Modelle die Logistik noch verändern, an welchen Stellen sich Kyriakopoulos und Prieschenk nicht einig waren und wohin sich die Technologie entwickelt, diskutieren beide im Podcast-Gespräch